Zwischen
Traditionsbildung und Traditionsverweigerung
Am
Beginn der Geschichte einer Zeitung,
am Beginn ihrer Zeitungstradition, steht kein
fest stehendes historisches Datum,
sondern die Verlage können die Geschichte ihrer
Zeitungen weitgehend nach Bedarf
verlängern
oder verkürzen. Denn Tradition
ist relativ. (Die vollständige Fassung des Beitrags erschien im Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Bd. 7/2005, S. 122-146) Zu den Marketinginteressen der Zeitungsverlage gehört der Aufbau einer möglichst langen Tradition ihrer Tageszeitungen. Anders als in anderen Wirtschaftsbranchen sind die dabei entstehenden Geschichtsschreibungen jedoch durch vielfältige Inkonsistenzen geprägt, indem unterschiedlichste Vorläuferblätter und Verlagstraditionen mehrdimensional in die Traditionslinien eingearbeitet werden. Fragt man in Rüsselsheim nach, wie alt die Opel-Fahrzeuge sind, ist die Antwort klar: Die Firma feierte im Jahr 1999 „100 Jahre Automobil“. Das Unternehmen käme wohl niemals auf die Idee, in seinen Selbstdarstellungen den Start der Opel-Fahrradproduktion (im Jahre 1886) als Beginn des Fahrzeugbaus zu begehen, obwohl Fahrräder als Wegbereiter des Autobaus gelten und obwohl früher auch die Vertriebswege beider Individualverkehrsmittel weitgehend identisch waren. Genausowenig werden die bei Opel ab 1862 produzierten Nähmaschinen in die Traditionslinie des Automobils gestellt, obwohl sie immerhin bereits über etwas ähnliches wie Gaspedale verfügten und die Übernahme solcher Bauteile sowie ihrer Fertigungstechniken ebenfalls durchaus zur Frühgeschichte des Autobaus gehören. Überlegungen
dieser Art, die für die Automobilwirtschaft bereits auf den ersten
Blick absurd anmuten, sind bei der Traditionsbildung im Verlagsgeschäft
jedoch die Regel: Während in den Firmengeschichtsschreibungen der
Autobauer etwa klare Zäsuren zwischen den einzelnen technischen Entwicklungsstufen
von Kutsche, Fahrrad bis Auto gemacht werden und zur Tradition des Autos
nicht einmal die ersten mit Dampf betriebenen Kraftfahrzeuge (ab 1763)
gezählt werden, bei denen es sich jedoch ebenfalls um Automobile handelte,
haben Zeitungsverlage in der Regel ein breiteres Verständnis von der
Tradition ihrer Zeitungen. Die unterschiedlichen Vorformen der heutigen
Verlagsprodukte werden ebenso in die Zeitungsgeschichte eingeflochten wie
die Entwicklung unterschiedlichster Vorläuferverlage. Eine großer
Teil heutiger Zeitungshäuser führt auf diese Weise die Gründung
ihrer Tageszeitungen auf das 18. Jahrhundert zurück (Tabelle 1).
Allgemein findet eine lange Unternehmenstradition im Geschäftsverkehr eine werbewirksame Verwendung als Nachweis für große Erfahrung und langjährigen Erfolg sowie für Solidität, Seriosität und Sicherheit und dient damit als Absatzhilfe. Im Pressewesen steht eine lange Tradition stellvertretend für eine „von Generationen geschulte journalistische Technik“, so 1928 der Zeitungsforscher Otto Groth; die Tradition dient dabei als Beleg für eine hohe Verankerung der (zumeist lokalen) Zeitung in der Bevölkerung, bei der „fest gewurzelte Zeitungen Vertrauen und Autorität genießen“. Die Zeitung, fasste Groth den Wert der Tradition zusammen, wird dadurch zu einem besonderen Markenartikel mit hoher Kundenbindung, die den Verlegern eine höhere ökonomische Stabilität und einen Schutz vor konkurrierenden Neugründungen garantiert: „Zwischen Publikum und Zeitung tritt im tagtäglichen Verkehr eine Gewöhnung und Anpassung aneinander ein, so daß eine alte Zeitung schließlich eine starke Stetigkeit der ihrer Abnehmer und Inserenten und dadurch eine starke Sicherheit der Existenz gewinnt.“ Tradition
als Qualitätsbeweis
Wie
in anderen Wirtschaftszweigen wurde die Schaffung einer möglichst
langen Tradition auch für die Verlage zu einem wichtigen Qualitätsnachweis
und zum Mittel des Marketings. „Daher versäumt keine Zeitung, die
auch nur auf eine einigermaßen stattliche Zahl von Lebensjahren zurückblicken
kann, auf ihr Alter schon in ihrem „Kopf“ hinzuweisen, mit ihm als Zeichen
des Ansehens und der Vertrauenswürdigkeit, des Einflusses und der
Verbreitung Reklame zu machen“, erkannte Groth zu Anfang des vergangenen
Jahrhunderts. Tageszeitungen entwickelten sich in der Folge zu einem, so
Madsack-Geschäftsführer Friedhelm Haak, „Mega-Markenartikel“,
weshalb auf der BDZV-Verlegertagung 2002 empfohlen wurde, das Ansehen dieser
Marke breiter zu nutzen und auch auf andere Geschäftsbereiche auszuweiten.
Hierzu können etwa Online-Portale, Ticketverkaufs- oder Reisebürodienste,
Buchhandel oder Postdienstleistungen gehören. Ein Verlag, der durch
seine Geschichte beweist, dass er bei gedruckten Medien seit 100, 150 oder
200 Jahren hohe Qualität geliefert hat, schafft auch für seine
neuen Geschäftszweige eine Glaubwürdigkeit, über die andere
Konkurrenten am Markt nicht verfügen.
Der
Hinweis auf eine lange zurückliegende Gründung und beeindruckende
Jahrgangsangaben beschwören zwar die langjährigen engen Verbindungen
zwischen einer treuen Leserschaft und den alteingesessenen lokalen Zeitungen.
Was jedoch am Anfang der von den Verlagen gefeierten langen Zeitungstraditionen
steht, unterscheidet sich deutlich von heute bestehenden Tageszeitungen.
So trugen die heute noch existierenden Blätter bei ihrer Geburt im
18. und 19. Jahrhundert zumeist gänzlich andere Namen (Tabelle 1).
Die älteste heute noch erscheinende deutsche Zeitung, die 1705 gegründete
„Hildesheimer Allgemeine Zeitung“, hieß anfangs „Hildesheimer Relations-Courier“
und erschien als „Hildesheimer Allgemeine Zeitung und Anzeigen“ erstmals
1854. Und auch als die zweitälteste noch bestehende Zeitung, der „Hanauer
Anzeiger“, im Jahr 2000 seinen 275jährigen Geburtstag beging, blickten
Verlag, Eigentümer und die Mitarbeiter zwar auf eine lange Laufzeit
des Blattes zurück, feierten jedoch eigentlich alles andere als das
Jubiläum des „Hanauer Anzeigers“, denn der Jubilar hatte als „Wochentliche
Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“ begonnen und seinen heutigen
Namen erst 1872 bekommen. Betroffen von solchen Namensänderungen sind
insbesondere jene gut hundert deutsche Zeitungen, die ihre Gründung
auf die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführen
(Abbildung 1).
Abbildung
1: Gründungsjahre noch bestehender deutscher Tageszeitungen.
Eigene
Zusammenstellung nach Verlagsangaben/ZDB; Hauptausgaben/Nebenausgaben mit
eigenem Titel/Nebentitel (N=714).
Hinter den seit dem erstmaligen Erscheinen immer wieder vorgenommenen Titeländerungen stehen nicht nur Formalia, sondern jeweils vollständig andere Produkte, die sich über den Namen hinaus vor allem auch im Erscheinungsbild und in den Inhalten weitestgehend von den heutigen Tageszeitungen unterscheiden. Nur im Ausnahmefall enthielten die frühen Zeitungen überhaupt eine nennenswerte Berichterstattung, weshalb etwa den heutigen „Hanauer Anzeiger“ mit dem Vorgängerblättchen aus dem 18. Jahrhundert kaum das Papier und die Druckerschwärze verbindet: „Layout, Inhalt und Adressatenkreis hatten mit der Tageszeitung, die heute in einer 275jährigen Tradition steht, noch absolut nichts gemein“, heißt es in der Verlagsgeschichte. Zwei
Ursprünge der Zeitungstradition
Die
Menge der Gemeinsamkeiten zwischen den heutigen Zeitungen und ihren Vorgängern
hängt ab vom Zeitungstyp, der jeweils am Anfang der Tradition stand.
Auch wenn unter Tageszeitungen heute ein einziger Zeitungstyp verstanden
wird, gehen die heute noch erscheinenden Zeitungen im Wesentlichen auf
zwei verschiedene Formen mit jeweils unterschiedlichen Inhalten und Funktionen
zurück.
Die
ersten Druckschriften, die mit dem Begriff „Zeitung“ bezeichnet werden,
waren ab Ende des 15. Jahrhunderts erschienen, wobei „Zeitung“ damals jedoch
nichts anderes als ein Synonym für „Nachricht“ bedeutete. Diese Blätter
erschienen jeweils als Einzeldrucke und berichteten teilweise polemisch
und holzschnittartig über Naturkatastrophen, Kriegsereignisse und
andere Sensationen oder befassten sich mit religiösen Streitfragen.
Die ersten periodischen Blätter folgten ab dem letzten Viertel des
16. Jahrhunderts, die sog. „Messrelationen“, bei denen es sich um durchschnittlich
100 Seiten starke Druckschriften handelte, die zumeist alle halbe Jahre
gelegentlich der Frühjahrs- oder Herbstmessen vertrieben wurden und
dementsprechend lediglich eine unaktuelle Auflistung von Nachrichten bieten
konnten.
Ab
Anfang des 17. Jahrhundert wurden sie durch „Relation“ oder „Aviso“ genannte
Blätter verdrängt, aktuelle Periodika, die den heutigen Zeitungen
schon näher kamen. Sie enthielten einen wahllose Abfolge von internationalen
politischen Meldungen, Herrschaftsklatsch, Urkundenabschriften, Kriegsmeldungen,
Wetterereignissen, jedoch nur vereinzelt lokale Nachrichten und ebenfalls
nur begrenzt Inlandsmeldungen. Die Leser erfuhren so, dass der deutsche
Kaiser seinem Generalfeldmarschall, Graf von Romanzow, ein goldenes Tabaksgefäß
geschenkt hatte und der päpstliche Nuntius in Warschau an einer Feier
teilnahm. Oder sie konnten lesen, dass die Franzosen 1.800 neue Rekruten
bekommen hatten, die Österreicher ein Interesse an der Region La Spezia
besaßen und gegen die Hauptstadt Korsikas eine Landblockade errichtet
worden war. Die Informationen waren bei ihrem Abdruck nicht wie bei den
Messrelationen mehrere Monate, sondern in der Mehrzahl nur noch zwischen
zwei und vier Wochen, teilweise gar nur noch wenige Tage alt.In den Blättern
wurden alle verfügbaren Nachrichten, die über das Postnetz eintrafen,
kommentarlos in der Reihenfolge ihres Eingangs abgedruckt. Da diese Zeitungen
politische Nachrichten druckten, unter den Augen der Landesherrschaft herausgegeben
und von diesen mit Nachrichten versorgt wurden (so sie ihren Druck überhaupt
genehmigte), kam es anfangs zu einer Selbstzensur und später einer
herrschaftlichen Zensur, die vor allem die Auslandsberichterstattung weniger
heikel als die aus dem Inland erscheinen ließ.
Auch
wenn in Leipzig die „Wochentlichen Zeitungen“ bereits 1650 in „Einkommende
Zeitungen“ umbenannt wurden und fortan sechsmal in der Woche erschienen,
kamen die meisten dieser Periodika jedoch weiter lediglich einmal wöchentlich
heraus. Diese Zeitungen werden wegen ihrer Berichterstattung und Periodizität
bereits als direkte Vorformen der Tageszeitungen betrachtet. Zu diesem
Zeitungstyp gehörte auch der „Hildesheimer Relations-Courier“ von
1705, Vorgänger der ältesten heute noch bestehenden deutschen
Tageszeitung, der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“, zudem die „Bremer
Wöchentlichen Nachrichten“, Vorläuferin der „Bremer Nachrichten“.
Zumeist
vom Anzeigenblatt zur Tageszeitung
Ein
sehr großer Teil der heute noch bestehenden Tageszeitungen geht jedoch
nicht auf diese Nachrichtenblätter mit politischer Berichterstattung
zurück, sondern auf einen Pressetypus, bei dem weder die Berichterstattung
über die Geschehnisse „draußen“ in der weiten Welt noch die
Berichterstattung über lokale Ereignisse eine Rolle spielte, nämlich
auf die ab den 1720er Jahren in einer Vielzahl entstandenen sog. Intelligenzblätter.
Diese enthielten als Anzeigen- und Bekanntmachungszeitungen zumeist keine
Nachrichten. Die darin abgedruckten Getreide- oder Brotpreise, Urteile
der örtlichen Gerichte, Listen der durchgereisten Fremden, standesamtlichen
Bekanntmachungen oder Immobilienanzeigen bildeten lediglich die Anfänge
einer lokalen Informationsvermittlung. Mit ihnen entstand ein Pressetypus,
der auch als Vorläufer der heutigen Anzeigenblätter verstanden
werden kann. Im Verlauf ihrer Entwicklung wurde freier Platz zusehends
mit „gelehrten Artikeln“ gefüllt, in denen das breite Publikum Tipps
und Ratschläge für Haus- und Landwirtschaft sowie literarische
Geschichten zur moralischen Unterweisung geboten bekam und die teilweise
die Aufklärungsideen popularisierten. Diese meist durch ein staatlich
garantiertes Monopol geschützten Zeitungen wurden in vielen deutschen
Staaten für bestimmte öffentlich bestallte Personengruppen zu
Pflichtblättern und zudem von der Obrigkeit mit Hilfe von Insertionszwängen
gefördert. Wegen ihrer sicheren Einnahmen dienten die Anzeigenblätter
oftmals zur Finanzierung karitativer Einrichtungen. Zwar wurde das Monopol
auf Anzeigen im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgehoben, die Zeitungen
behielten aber zumeist ihre offizielle Funktion für das kommunale
Bekanntmachungswesen, indem sie den Städten und Kreisen als Amtsblätter
dienten.
Gerade
bei Blättern, die nicht nur ohne Nachrichten auskamen, sondern sich
auf Anzeigen, Bekanntmachungen oder Preisberichte beschränkten, war
es ein weiter Weg von der wöchentlich bis zur täglich erscheinenden
Zeitung, zu einem Blatt, das außer der Publikation von Inseraten
auch die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignisse dokumentieren
und kommentieren sollte.
Eine
vor allem lokale und regionale Berichterstattung nahmen diese Zeitungen
erst mit der Lockerung der Zensur und den gewerberechtlichen Verbesserungen
auf, die vor allem im Zuge der Revolution von 1848 sowie nach der Entstehung
des Deutschen Reiches 1871 erfolgten. Mit der 1848er Revolution ging auch
die Aufhebung der rechtlichen Trennung von politischen und Intelligenzblättern
einher. Aus den überall verbreiteten Intelligenzblättern konnten
sich die (heute die deutsche Presselandschaft prägenden) Lokalzeitungen
mit ihrer umfassenden auch politischen Berichterstattung entwickeln. Auf
diese Blätter gehen der heute noch bestehende „Hanauer Anzeiger“,
die „Saarbrücker Zeitung“ oder die „Lippische Landeszeitung“ aus Detmold
zurück. Insgesamt machten alle diese Zeitungen nach ihrem ersten Erscheinen
unterschiedlich ausgeprägte Wandlungsprozesse durch.
Mehrdimensionelle
Traditionsbildung
Wie
weit und vor allem verschlungen der Weg von einem wöchentlichen Bekanntmachungsblatt
zu einer modernen Lokalzeitung war, dokumentiert die Entwicklung der zweitältesten
deutschen Zeitung, des als „Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“
gegründeten „Hanauer Anzeigers“, die durch eine große Zahl von
Kontinuitätsbrüchen gekennzeichnet ist. Eine die Zeitungsgeschichte
überspannende durchgängige Traditionslinie ist bei diesem ursprünglich
auf dem Intelligenzblatt beruhenden Zeitungstyp nicht feststellbar, erst
die Bündelung der sich überlappenden und immer wieder unterbrochenen
unterschiedlichen Traditionslinien ergibt auch hier die eigentliche Tradition,
auf die beim Jubiläum Bezug genommen werden kann (Abbildung 2).
Abbildung
2: Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Zeitungstradition
am Beispiel des „Hanauer Anzeigers“ (1725-2000)
Der
Zeitungsname „Hanauer Anzeiger“ reicht (mit einer Unterbrechung durch ein
nationalsozialistisches und anschließend amerikanisches Publikationsverbot
von 1941 bis 1949) lediglich bis in das Jahr 1872 zurück (Abbildung
3). In den davor liegenden 150 Jahren trug die Zeitung insgesamt fünf
unterschiedliche Namen und erschien etwa in der Franzosenzeit von 1811
bis 1813 als „Hanauer Departments-Blatt“ oder in den ersten Jahrzehnten
nach der Gründung als „Wochentliche Hanauer Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“
(dessen Namensbestandteile zudem ab und an vertauscht wurden).
Auch
die Geschichte des Verlagshauses und ihrer Inhaber ist nicht durch eine
durchgängige Traditionslinie, sondern durch drei gänzlich unterschiedliche
Eigentümergruppen gekennzeichnet. Auf die erste Verlegerfamilie (bzw.
deren Erben und Einheiratungen) folgte nach einem Vierteljahrhundert der
Verlag des Evangelisch-Reformierten Waisenhauses in Hanau, dem das Verlagsrecht
durch den Landgrafen von Hessen-Kassel als Einnahmequelle übertragen
worden war. Die Verlagstradition der heutigen Eigentümerfamilie begann
erst 1925 bzw. 1936.
Ähnliche
gebrochene Kontinuitäten bestimmen beim „Hanauer Anzeiger“ auch die
Tradition des Pressetyps. In die Kategorie „Tageszeitung“ kann das Blatt
erst seit den 1870er Jahren gezählt werden. Vorher war die Zeitung
ein Anzeigen- und Bekanntmachungsblatt. Den Übergang zur umfassend
politisch berichtenden Tageszeitung vollzog der 1725 als Intelligenzblatt
gegründete „Hanauer Anzeiger“ auf diese Weise erst rund 150 Jahre
nach der Gründung, auch wenn zuvor bereits Informationen gedruckt
wurden, die über reine Anzeigen und Bekanntmachungen hinaus gingen:
Nachdem ab 1765 erstmals Preisberichte (Brot-, Fleisch- und Wurstpreise),
seit den 1820er Jahren regelmäßig Polizeiberichte und Informationen
für Haus und Garten sowie seit den 1840er Jahren vereinzelt auch Wirtschaftsbeiträge
(Eröffnung von Bahnlinien etc.) erschienen waren, folgten in den 1860er
Jahren Börsen- und Devisenkurse und ein Unterhaltungsteil. Die Anfänge
der universellen und aktuellen Berichterstattung datieren auf das Jahr
1870, als am Schluss jeder Nummer auf immerhin einer halben Seite Kriegsberichte
sowie andere lokale, nationale und internationale Meldungen zu finden waren.
Ab 1873 rückte der mittlerweile erweiterte Textteil an den Anfang
der Zeitung sowie der Anzeigen- und amtliche Teil nach hinten. „Die Ausgabe
vom 1. Juli erlaubte erstmals den Vergleich mit einer heutigen Tageszeitung“,
heißt es in der Verlagsgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitung
bereits knapp anderthalb Jahrhunderte alt.
Zehn
Möglichkeiten der Traditionsbildung
Wie
das Beispiel des „Hanauer Anzeigers“ besonders augenfällig zeigt,
ist es bei Zeitungsjubiläen nicht ein durchgängig vorhandener
Zeitungsname oder eine durchgängige Produkttradition, die jeweils
den Hintergrund des Jubiläums bilden kann. Da die Produkttradition
(eine Tageszeitung mit universeller und aktueller Berichterstattung) zumeist
lediglich bis in die Mitte des 19. Jahrhundert zurückreicht und auch
der Zeitungsname in der Regel jüngeren Datums ist, entsteht die Tradition
ungeachtet aller zahlreichen historischen Wandlungen erst durch die Verknüpfung
unterschiedlicher nebeneinander her laufender Entwicklungslinien, die erst
zu einem Ganzen zusammengefügt werden müssen. Tageszeitungen
werden dabei im übertragenen Sinne zu „Unternehmen“, die „über
Titeländerungen und Zählungen hinweg als historisch gewachsene
Einheit“ aufgefasst werden, so der Zeitungsforscher Wilbert Ubbens. Sie
erhalten dabei ein organisches Eigenleben zugesprochen, dessen Lebensgeschichte
durch „biografische“ Brüche eher reicher als unterbrochen wird.
Dieses
von einer Vielzahl Kontinuitätsbrüchen geprägte Eigenleben
der Tageszeitungen bildet den grundsätzlichen Unterschied der Traditionsbildung
gegenüber anderen Wirtschaftsbereichen: Anders als etwa die Automobilproduzenten
schaffen sich Verlage eine Art „Patchwork-Tradition“. Während Unternehmen
aus anderen Branchen entweder das Alter eines Produktes oder das Alter
des Unternehmens feiern, ist im Zeitungswesen eine Kombination aus vielen
unterschiedlichen Kategorien (Tabelle 2) üblich, bei der Produkt und
Erzeuger eins werden. Die Darstellungen der Entwicklungen einzelner Tageszeitungen
erfolgen dabei nicht als durchgehende Traditionslinie, sondern als mehrdimensionaler
Traditionszusammenhang, der es erlaubt, dass weitgehend alle evolutionären
Entwicklungsschritte und Vorformen des Mediums „Tageszeitung“ zu einer
einzigen Unternehmensgeschichte vereinigt werden können.
Tabelle
2: Tradition stiftende Merkmale für das Produkt „Tageszeitung“
Aus
den verschiedenen Darstellungen der Zeitungsgeschichte lassen sich zehn
Kategorien destillieren, die in jeweils unterschiedlichen Kombinationen
den bislang inhaltlich nicht systematisch analysierten Traditionsbegriff
ausmachen können: Traditionsbildend wirken können so (a) markenrechtliche
Kontinuitäten (indem ein rechtlich geschützter Zeitungsname über
einen langen Zeitraum genutzt wird) oder (b) die Produkttradition (Dauer
des Erscheinens als Zeitungstyp „Tageszeitung“). Die die Eigentumsverhältnisse
betreffenden (c) dynastischen Kontinuitäten können sich nicht
nur auf die typische Weitergabe von Familienunternehmen durch Erbgang und
Einheirat beschränken, sondern erfolgten etwa beim Essener Verlag
der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ als „byzantinische Dynastik“ (Financial
Times Deutschland), bei der die bruchlose Unternehmensnachfolge durch eine
Adoption sichergestellt wird: Erich Brost, einer der beiden Gründungseigentümer
der WAZ, nahm so seinen Geschäftsführer Erich Schumann an Kindes
statt an. Daneben bestehen die üblichen unternehmensrechtlichen Kontinuitäten
(d), wenn Zeitungsverlage nicht im Rahmen eines Erbgangs den Inhaber wechseln,
sondern die Rechtsnachfolge durch Kauf angetreten wird. Der 1862 gegründete
Verlag des „Täglichen Anzeigers“ aus Holzminden übernahm so 1922
das „Holzmindener Kreisblatt“. Nur mit Hilfe dieser käuflichen Übernahme
konnte der erst 1871 gegründete „Tägliche Anzeiger“ sein Gründungsdatum
auf das Jahr 1777 zurückdatieren.
Auch
personelle Kontinuitäten (e) können dazu führen, dass zwei
aufeinanderfolgende Zeitungen in eine einzige Traditionslinie gestellt
werden. So gelten etwa die beiden Nachkriegszeitungen „Osnabrücker
Rundschau“ und „Neues Tageblatt“ trotz größter Unterschiede
als Nachfolgeblätter. Die beiden Osnabrücker Zeitungen lösten
zwar einander ab, außerdem waren das redaktionelle und technische
Personal sowie die benutzten Produktionsanlagen dieselben, doch unterschieden
sich die Zeitungen schon aufgrund formaler Kriterien wie Verlag und Herausgeber
beträchtlich: Die „Rundschau“ war ein von der britischen Militärbehörde
in Osnabrück herausgegebenes Nachrichtenblatt mit Propagandaauftrag,
beim nachfolgenden „Tageblatt“ handelte es sich hingegen um die erste zivile
deutsche Nachkriegszeitung der Stadt.
Die
langjährige Nutzung derselben Druckstätte (f) kann ebenfalls
der Schaffung von Tradition dienen. So führt sich die „Schaumburger
Zeitung“ (Rinteln) auf das Jahr 1762 zurück, als erstmals ein Blättchen
namens „Rintelsche Anzeigen“ erschien, das jedoch nach neun Jahren wieder
ablebte. Die nächste Zeitung erschien zwar erst 16 Jahre später
und hatte mit der ersten Zeitung weder den Namen, den Verlag noch den Drucker
gemein. Als Basis der Zeitungstradition dient hier jedoch die traditionelle
Adresse des Verlagsbüros, das 1762 wie heute in der Klosterstraße
33 residierte. Ebenfalls zur Bildung von Zeitungstraditionen werden (g)
politische Wertvorstellungen herangezogen. 1990 entstand so in Rostock
die „Mecklenburgische Volks-Zeitung“, die die Jahrgangszählung einer
1892 gegründeten namensgleichen Vorgängerin fortführte.
Während die erste „Volks-Zeitung“ bis 1933 den Untertitel „Organ der
Sozialdemokratischen Partei“ trug, gehörte die Wiedergründung
des Jahres 1990 nicht der SPD und sollte auch „auf keinen Fall ein SPD-Blatt“
sein, wurzelte jedoch als „Stimme der neuen Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern“
(Untertitel) und als „linke Alternative“ im Wertekanon einer sozialen Demokratie.
Eine
schwache Herstellung von Tradition ohne weitere Kontinuitäten erfolgt
in den Fällen, wo lange nicht mehr genutzte Titel genommen werden,
um gänzlich neuen Zeitungen eine gewisse Patina zu verleihen (h).
So griffen nach der Wende 1989 einige neu gegründete ostdeutsche Lokalzeitungen
auf die Namen alter Heimatblättchen zurück und schufen so eine
Scheintradition, etwa der „Oranienburger Generalanzeiger“. Eine Scheintradition
wird auch dort aufgebaut, wo (i) ein frühes Gründungsdatum lediglich
fälschlich behauptet wird. Gerade, wenn zwischen Zeitungen eine Konkurrenzsituation
herrscht, kann bei der Festlegung des Alters auch schon einmal auf nicht
sachlich gerechtfertigte Weise nachgeholfen werden. Dies geschah etwa in
Hildesheim, das durch die langjährige Konkurrenz zwischen der 1705
gegründeten „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“ und der frühestens
1757 entstandenen „Hildesheimschen Zeitung“ geprägt war. Letztere
versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts ihrer Konkurrenz den Status der ältesten
Zeitung der Stadt streitig zu machen, indem sie die eigene Geburt substanzlos
auf das Jahr 1698 vordatierte.
Eine
entscheidende Traditionslinie dürfte von der jahrhundertelangen staatlichen
Gängelung der Presse ausgehen, die die Zeitungen in den Augen der
lokalen Bevölkerung ungeachtet anderer Brüche aus rechtlich-funktionalen
Gründen (j) als „gewachsene Einheit“ erscheinen ließ. Von den
gut dreieinhalb Jahrhunderten, die seit Erscheinen der ersten Zeitung 1605
in Straßburg vergangen sind, können lediglich der kurzer Wimpernschlag
während der 1848er Revolution, eingeschränkt die 15 Jahre in
der Weimarer Republik sowie die Zeit nach 1949 (bzw. 1989 in Ostdeutschland)
als durch eine Pressefreiheit geprägt angesehen werden. In allen anderen
Zeiträumen wurden nicht nur auf unterschiedliche Weisen die Inhalte
zensiert, sondern durch Kautionsverpflichtungen, Konzessionszwänge,
Gewährung von Gewerbeprivilegien oder durch besondere „Stempelsteuern“
die Verlagsgewerbefreiheit beschränkt und die Gründung von Zeitungen
und Zeitschriften unterbunden. Die Vergabe besonderer Privilegien führte
im 17. und 18. Jahrhundert dazu, dass die Herausgeber von politischen Zeitungen
weitgehend vor Konkurrenz geschützt waren und teilweise nicht nur
in einzelnen Städten, sondern in ganzen Ländern eine Monopolstellung
inne hatten. Auch die Intelligenzblätter, aus denen sich ab Mitte
des 19. Jahrhunderts die heutigen Lokalzeitungen entwickeln sollten und
die flächendeckend selbst in kleinen Städten erschienen, hatten
in der Regel eine Monopolstellung inne, die anfangs in ihrer staatlichen
Lizensierung, später in ihrer engen Anbindung an die Behörden
(als amtliches Bekanntmachungsblatt) begründet war.
Das
Privileg oder die Konzession zur Herausgabe der Zeitung war entziehbar
und von einer auf eine andere Person oder ein Waisenhaus übertragbar.
Wechselte hingegen nach einem Entzug und Neuvergabe der Lizenz der Rechteinhaber,
so blieb doch die Zeitung als rechtliche Institution erhalten, was bis
weit in das 19. Jahrhundert hinein der Traditionsbildung eine Grundlage
verschaffte. Nach der Abschaffung der Lizenzpflicht sicherte der Amtsblattstatus
den Zeitungen Einkommen und Beachtung des Publikums, häufig waren
damit auch öffentliche Druckaufträge verbunden. Durch die amtlichen
Anzeigen behielt die Zeitung als Ganzes ihren offiziösen Charakter,
erkannte Groth: „Aber da […] ein Blatt allein im Kreis die amtlichen Anzeigen
und Bekanntmachungen bekommt und so in engsten Beziehungen zu dem Landratsamte
steht, so erhielt sich die Vorstellung im Publikum, daß dieses Verhältnis
sich nicht auf den Inseratenteil beschränke.“
Möglichkeiten
nicht immer genutzt
Alle
unterschiedlichen, für die Bildung einer langen Zeitungstradition
verwendbaren Kategorien (Tabelle 2) können von den Verlagen für
die Geschichtsschreibung genutzt werden, sie müssen es jedoch nicht.
Ein
deutlich früheres Gründungsdatum könnte so eigentlich die
„Thüringische Landeszeitung“ begehen. Als die Zeitung nach dem 2.
Weltkrieg im Herbst des Jahres 1945 startete, tat sie dies mit Unterstützung
einer Anzahl weiterer thüringischer Traditionsverlage als gemeinsame
Genossenschaft im alteingesessenen Weimarer Panse-Verlag. Auch der Name
der „Thüringischen Landeszeitung“, die im Umfeld der Liberal-Demokratischen
Partei gegründet wurde und später vollständig in deren Eigentum
geriet, verweist auf einen Vorläufer aus dem Panse-Verlag, nämlich
die 1849 gegründete und bis 1943 erschienene „Allgemeine Thüringische
Landeszeitung Deutschland“. Da nach dem Zweiten Weltkrieg als Parteizeitung
wiederauferstanden, entfiel 1945 aus dem alten Titel die politisch nun
zu breit wirkende Bezeichnung „Allgemeine“, ebenso der Zusatz „Deutschland“.
Noch 1946 und damit nach der Enteignung galt der Verlag der „Thüringischen
Landeszeitung“ selbst bei den staatlichen Behörden weiter als „Panses
Verlag“. Die heute noch bestehende „Thüringische Landeszeitung“ könnte
(vgl. Tabelle 2: a, b, d, e, f) somit durchaus das Revolutionsjahr 1849
als ihr Gründungsdatum begehen.
Da
die Traditionsbildung als Marketinginstrument dient, erscheint es den Verlagen
sinnvoll, vor allem wenig vorzeigbare und nicht öffentlichkeitswirksame
Traditionslinien wegzulassen. Es kann deshalb nicht überraschen, dass
heute insbesondere die Berührungspunkte zur nationalsozialistischen
oder SED-Geschichte wenig Verwendung in der Außendarstellung der
Zeitungsunternehmen finden: Im Vergleich mit den üblichen Maßstäben
der auf Patina sinnenden Verleger werden einige Zeitungen quasi jung gerechnet.
Dies betrifft vor allem Zeitungen aus Ostdeutschland, etwa das 1945 gegründete
das KPD-Blatt „Thüringer Volkszeitung“ und deren Nachfolger. Ab 1946
gehörte diese Zeitung bis 1990 unter dem Titel „Das Volk“ der SED.
Nach der Wende löste sich die Zeitung von der SED, erlebte einen neuen
Frühling und stellte ungeachtet der damals 45jährigen Geschichte
den Jahrgangszähler wieder auf Null. Der Rechtsnachfolger der 1945
gegründeten „Thüringer Volkszeitung“ wurde dabei am 13. Januar
1990 in „Thüringer Allgemeine Zeitung“ umbenannt und später an
die WAZ verkauft. Nähme der Verlag gleich anderen Zeitungshäusern
bei der Festlegung der Jubiläumsdaten das breite Bündel unternehmensrechtlicher
Verbindungen zur Vergangenheit als Maßstab der Traditionsbildung,
hätte man 1999 den 75jährigen Geburtstag feiern können.
Denn ganz am Beginn der verwickelten Verlagsgeschichte der „Thüringer
Volkszeitung“/„Das Volk“/„Thüringer Allgemeine Zeitung“, im Jahr 1924,
stand ein Parteiblättchen namens „Deutscher Aar“, das 1925 in „Der
Nationalsozialist“ umbenannt wurde. Der NS-Verlag wurde nach dem Krieg
enteignet und dem kommunistischen Verlag der „Thüringer Volkszeitung“
übergeben, eine Traditionslinie (vgl. Tabelle 2: d, f), die auch Eingang
in das Handelsregister fand: Unternehmenszweck des 1945 registrierten KP-Verlags
war danach die „Übernahme und Weiterführung des früheren
NS-Verlags ‚Der Nationalsozialist‘ in Weimar, Goetheplatz, die Herausgabe
von Zeitungen, Ankauf und Einrichtung von Druckereien zwecks Herstellung
von Zeitungen aller erlaubten Parteien, die sich für den Aufbau eines
neuen Deutschland einsetzen sowie Organisation und Herstellung von Drucksachen“.
Muss
die Tradition „gesund“ sein?
Angesichts
solcher dunkler Traditionslinien ist eine Verlagsgeschichtsschreibung,
die das Jahr Null der Zeitungstradition in Umbruchjahren wie 1945/46 oder
1989/90 beginnen lässt, nicht überraschend: Da die Verlage ihren
Geburtstag nach uneinheitlichen Kriterien selber aussuchen können,
achten sie zumindest in der Außendarstellung darauf, dass das Unternehmen
in der möglichst „gesunden“ Tradition eines politischen Neuanfangs
wurzelt.
Dies
geht um so besser, wenn ein adäquater Ersatz bereit steht. Die Magdeburger
„Volksstimme“ führt etwa ihre Tradition auf das Jahr 1890 zurück,
als die SPD eine Zeitung dieses Namens gründete. 1933 wurde die „Volksstimme“
geschlossen. 1947 erfolgte eine Wiedergründung durch die SED (vgl.
Tabelle 2: a, g), nach der Wende wurde diese Zeitung dann an den Hamburger
Bauer-Verlag verkauft (vgl. Tabelle 2: d).
Der
Aufbau des SED-Organs „Volksstimme“ erfolgte nach dem 2. Weltkrieg jedoch
nicht als Fortsetzung der ersten sozialdemokratischen „Volksstimme“, sondern
buchstäblich auf den Trümmern der „Magdeburgischen Zeitung“ aus
dem vor dem Krieg hoch renommierten Faber-Verlag. Der traditionsreiche
Zeitungsname „Magdeburgische Zeitung“, der der „Volksstimme“ in der zweiten
Hälfte der 1940er Jahre durch Enteignung zufiel, wird heute als Lokaltitel
genutzt. Die „Volksstimme“ nutzt jedoch nicht nur den traditionellen Zeitungsnamen,
sondern residiert zudem weiter auch in den alten Verlagsgebäuden des
Faber-Verlags (vgl. Tabelle 2: a, d, f). Würde der von Bauer übernommene
„Volksstimme“-Verlag wie westdeutsche Verlage die Rechtsnachfolge des Zeitungsunternehmens
(der „Magdeburgischen Zeitung“) zur Traditionsbildung nutzen, hätte
man im Jahr 2001 das 375jährige Bestehen als mit Abstand älteste
deutsche Zeitung feiern können. Auch hier gehen die Traditionsbrüche
in der Verlagsgeschichte mit gesellschaftlichen Brüchen einher.
Angesichts
der im deutschen Verlagswesen üblichen Traditionsbildung könnte
eine Vielzahl ostdeutscher Zeitungsverlage gleichwohl nach einer Schamfrist
dereinst dazu übergehen, die unterschiedlichen möglichen Traditionslinien
zu nutzen und entsprechend der westdeutschem Verfahrensweisen das Gründungsjubiläum
nach vorne zu verlegen. Die „Schweriner Volkszeitung“ (SVZ) ist so beispielsweise
bereits fast flächendeckend dazu übergegangen, ihren lokalen
Nebenausgaben jene Namen zu geben, die bereits für die örtlichen
Tageszeitungen vor dem 2. Weltkrieg genutzt wurden (vgl. Tabelle 2: d oder
h). Die Lokaltitel lauten etwa wie schon 1937 „Bützower Zeitung“,
„Anzeiger für Sternberg, Warin, Brüel“, „Parchimer Zeitung“ oder
„Ludwigsluster Tageblatt“. Insgesamt könnte bei einem Zugriff auf
ältere Traditionslinien eine große Zahl von ostdeutschen Zeitungen
schlagartig um mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte altern (Tabelle
3).
Tabelle 3: Zur Traditionsbildung verwendbare Wurzeln bestehender ostdeutscher Tageszeitungen (Beispiele)
Wie die maximal 60 Jahre alten ostdeutschen Zeitungen, die nach 1945 zumeist durch Enteignungen an deutlich ältere Titelrechte gelangten, sind durchaus auch bei vielen westdeutschen Verlagen Rückgriffe auf deutlich länger zurückliegende Gründungsdaten möglich. Viele in den 1940er Jahren gegründete Zeitungen übernahmen seit den 1950er Jahren durch Kauf oder Fusion bestehende ältere kleinere Konkurrenten, deren Traditionen ebenfalls nutzbar gemacht werden könnten. Tradition
als Vorteil nutzen
Wie
die Beispiele zeigen, ist die Traditionsbildung bei Tageszeitungen in hohem
Maße abhängig von individuellen Interessen der Verlage. Sie
folgt kaum einer konsistenten wissenschaftlichen Kategorisierung.
Obwohl
die Traditionsbildung nicht nach einheitlichen Kategorien erfolgt, ist
den Zeitungen gemein, dass sie jeweils „eine Solidargemeinschaft mit den
Lesern und ihren örtlichen Gemeinschaften“ bilden, so der Verleger
Dirk Ippen. Die Leser identifizieren sich stark mit „ihrer“ traditionellen
Zeitung und weisen ihr eine hohe Kompetenz zu. Der Markenartikel „Zeitung“
bietet somit grundsätzlich den Vorteil einer langjährigen Geschichte.
Dieser Vorteil sollte nicht verschenkt werden.
Gerade
angesichts der Beliebigkeit vieler schnell entstehender und ebenso schnell
wieder verschwindender Firmen kann die lange Tradition eines Zeitungsverlags
auch in dessen neuen Geschäftszweigen, angefangen vom Multimedia-Geschäft
mit SMS-Diensten bis hin zum Ticketverkauf und Postdienst, als Beweis hoher
Verlässlichkeit dienen. Eine öffentlichkeitswirksam präsentierte
langjährige Unternehmenstradition schafft so Vertrauen bei den Kunden,
vermittelt den Eindruck von Stabilität und setzt im unübersichtlichen
Angebot der Konkurrenten Maßstäbe. Die Geschichte eines Verlags
bietet folglich die Chance, als Mittel des Marketings genutzt zu werden
– und das auch in den Geschäftszweigen jenseits der Zeitungsproduktion.
Nebenbei
stärkt der offensive Umgang mit der Unternehmenstradition auch den
Stolz und das Selbstbewusstsein der Mitarbeiter und damit deren Leistungsfähigkeit.
Ein
Verlag kann somit auf ein Potenzial zurückgreifen, über das viele
andere Unternehmen nicht verfügen. Dies
gilt es zu nutzen.
Stefan Matysiak
|
Stefan Matysiak:
Aufsatz über die Schaffung von Zeitungstradition. Wie schaffen Verlage
sich eine möglichst lange Geschichte? Stefan Matysiak arbeitet zur
Pressegeschichte Besatzungsmedien
Auswahlbibliografie/
Zeitungstradition bzw. Pressetradition
Verlage sind
in der Regel als privatwirtschaftliche
und kaufmännischen
Grundsätzen unterliegen. Ihre Geldgeber erwarten von ihnen,
Unternehmen
verfaßte Wirtschaftssubjekte,3 die elementaren betriebswirtschaftlichen
mit den zur
Verfügung gestellten Ressourcen profitabel zu wirtschaften und durch
Kapital auch
angemessen zu verzinsen.
ihre Arbeit
nicht nur kulturelle Wirkungen zu erzeugen, sondern das eingesetzte
In der Realität
zwingen also die kulturidealistische Sichtweise der Verleger
Verlag zu
einer Gratwanderung zwischen Kultur und Profit. In der Regel finden die
auf der einen
und die kaufmännischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite den
Verleger
zu einer gesunden ›Mischkalkulation‹,7 bei der gut verkäufliche ›Brottitel‹
stoßen
und sich folglich schlechter absetzen lassen. Letztere veröffentlichen
die
diejenigen
Bücher kalkulatorisch mittragen, die auf weniger Publikumsinteresse
Kultur ihrer
Gesellschaft einen Dienst zu erweisen – und schließlich nicht zuletzt
Verlage jedoch
meist in dem (Sendungs-)Bewußtsein, mit diesen Publikationen der
auch. das
Renommee ihres Hauses zu fördern. Dieses fragile Verhältnis zwischen
Kultur und
Profit müssen die Verlage immer wieder neu definieren und justieren.
betriebswirtschaftliche
Verluste, oder es zieht sich zugunsten des Kommerzes aus
Gerät
es zu sehr aus der Balance, drohen dem Unternehmen entweder
dem kulturidealistischen
Feld zurück.
historische
Untersuchung eine Betrachtungsweise zu wählen ist, die sowohl den
Aus dem ›doppelten
Charakter‹ der Verlage ergibt sich jedoch, daß für ihre
kulturellen
Aspekten des Unternehmens Rechnung trägt als auch die betriebswirtschaftliche
Perspektive
entspräche die Verlagsgeschichtsschreibung auch dem ›doppelten
Seite des
Büchermachens angemessen berücksichtigt.10 Mit einer solchen
Charakter‹
des Buches, das sich als Ware von den meisten anderen massenhaft
produzierten
Konsumgütern unterscheidet: Neben der äußeren, dinglichen
Dimension
auf.11 als
(Gebrauchs-)Ware weist es zusätzlich eine innere, inhaltliche als
Kulturträger
Matysiak, Stefan: . Warum Verlagsgeschichtsschreibung? Verlagsgeschichte als Kapital für die Zukunft Gerade bei Engagements im Bereich neuer Medien oder anderer noch junger Geschäftsfelder können Verlage ihre langjährige Unternehmensgeschichte ideal als Kapital für ihre Zukunft nutzen. Für Verlage gelten dabei die gleichen Gesetze wie für andere Unternehmen: Eine möglichst lange Unternehmenstradition dient im Geschäftsverkehr als werbewirksamer Nachweis großer Erfahrung und langjährigen Erfolgs. Den Kunden gilt eine lange Unternehmensgeschichte als Nachweis für Solidität, Seriosität und Sicherheit. Speziell im Pressewesen steht eine lange Tradition stellvertretend für eine "von Generationen geschulte journalistische Technik", beschrieb bereits 1928 der Zeitungsforscher Otto Groth. Auch die heutigen Leser wissen: Ein Verlag mit langer Geschichte arbeitet traditionellerweise seriös und solide. Ein Verlag, der durch seine langjährige Geschichte beweist, dass er bei gedruckten Medien seit 100, 150 oder 200 Jahren hohe Qualität geliefert hat, schafft auch für seine neuen Geschäftszweige eine Glaubwürdigkeit, über die andere Konkurrenten am Markt nicht verfügen. Markenartikel haben Geschichte Seit langem gelten Tageszeitungen deshalb als ein "Mega-Markenartikel", so der Geschäftsführer der Verlagsgesellschaft Madsack, Friedhelm Haak. Um dieses Potenzial stärker zu nutzen, wurde auf der BDZV-Verlegertagung 2002 empfohlen, das Ansehen dieser Marke auch auf andere Geschäftsbereiche auszuweiten. Hierzu gehören etwa Online-Portale, SMS-Serviceleistungen, Ticketverkaufs- oder Reisebürodienste, Buchhandel oder Postdienstleistungen. Der Vorteil des historisch gewachsenen Markenartikels 'Zeitung' sollte nicht verschenkt werden. Zeichen der Verlässlichkeit auch in neuen Geschäftszweigen Gerade angesichts der Beliebigkeit vieler schnell entstehender und ebenso schnell wieder verschwindender Firmen kann die lange Tradition eines Zeitungsverlags auch in dessen neuen Geschäftszweigen als Beweis hoher Verlässlichkeit dienen. Eine öffentlichkeitswirksam präsentierte langjährige Unternehmenstradition schafft so Vertrauen bei den Kunden, vermittelt den Eindruck von Stabilität und setzt im unübersichtlichen Angebot der Konkurrenten Maßstäbe. Die Geschichte eines Verlags bietet folglich die Chance, als Mittel des Marketings genutzt zu werden - und das auch in Geschäftszweigen jenseits der Zeitungsproduktion. Ein Verlag kann somit auf ein Potenzial zurückgreifen, über das viele andere Unternehmen nicht verfügen. Und der offensive Umgang mit der Unternehmenstradition stärkt nebenbei auch den Stolz und das Selbstbewusstsein der Mitarbeiter und damit deren Leistungsfähigkeit. Ihr Unternehmen kann über mehr Tradition verfügen, als Sie denken Die Traditionsbildung eines Zeitungsunternehmens folgt Gesetzen, bei denen auch vielfältige Traditionsbrüche keine Rolle spielen. Denn auch die sehr alten und traditionsreichen deutschen Tageszeitungen hatten bei ihrer Gründung zumeist andere Namen als heute, andere Eigentümer als heute und einen Inhalt, der mit den heutigen Tageszeitungen nicht viel zu tun hat. Auch die Tradition der sehr alten deutschen Zeitungen ist lediglich nach besonderen Regeln konstruiert. Trotzdem haben auch Zeitungen, bei denen zwischen dem Heute und dem Gestern kein Zusammenhang besteht, eine lange Tradition. Solche Tradition ist konstruierbar. Auf diese Weise lässt sich auch bei Ihnen eine eventuell bestehende nur kurze Zeitungstradition möglicherweise zum Nutzen Ihres Verlages verlängern. Matysiak, Stefan Matysiak